Service Design.

Kai Bösterling
7 min readFeb 3, 2020

Die klassische Marketinglehre unterscheidet zwischen dem Marketing von Sachgütern und dem Marketing von Dienstleistungen. Diese Schere im Kopf hat dazu geführt, dass die Beschäftigung mit Service im Gütermarketing erst an nachgelagerter Stelle kommt. Service wird häufig nur als Reaktion auf Kundenreklamationen angeboten. Fatal! Denn Service ist das eigentliche Produkt.

Das Betriebssystem der Marke.

Wir kaufen nicht nur das Brot, das uns gut schmeckt, sondern insbesondere die freundliche Verläuferin in der Bäckerei, das heimelige Ambiente und das Gefühl, welches uns der Bäcker in seinem Verständnis von Handwerk vermittelt. In unserer Stammkneipe oder in der Szenebar trinken wir nicht nur Bier bzw. einen Moscow Mule, sondern wir genießen das angenehme Interieur, die Nüsse auf dem Tresen, den Talk mit dem Bartender oder die unkomplizierte Online-Reservierung des Tisches.

Produkte werden immer ähnlicher. Die Konkurrenz wird immer größer. Die Nachfrage ist endlich. Die meisten Märkte sind heute Verdrängungsmärkte. Selbst in neuen Märkten findet ziemlich schnell Konsolidierung durch Verdrängung statt, wie aktuell z. B. der harte Konkurrenzkampf im E-Scooter-Segment zeigt.

In einer von Optionismus geprägten Welt ist es eine besondere Herausforderung, Kundenloyalität zu erlangen und zu halten. Je mehr Marken „Service-Betriebssystem” werden für Kundenbedürfnisse und gemeinsame Wertvorstellungen, desto größer werden ihre Relevanz und ihre Kundenbindung.

Service ist der wirkliche Differenzierungsfaktor, weswegen wir uns für Produkte und für Wiederkäufe entscheiden. Service zeigt die Haltung des Unternehmens, wie es den Kundenbedürfnissen wirklich ein Leistungsversprechen gegenüberstellt.

Ein Produkt ohne Service-Design ist kein Produkt. Service macht ein Produkt erst lebendig. Service macht die Haltung in einem Produkt plastisch erlebbar.

Service-Design-Big-Thinking.

Wenn wir Service in dieser Weise sehen, dann nicht als Teilfunktion des Dienstleistungsmarketing, des Kundendienstes oder als Service-Design in der User Experience, sondern als Erlebnisgestaltung während der gesamten Beziehung zum Kunden.

Erfolgreiche Produkte im Markt sind diejenigen, die nicht nur Qualität und Preis in gerechte Relation setzen, sondern vor allem eine sehr positive Customer Experience an allen Kontaktpunkten aufweisen. Die heutige Aufgabe des Marketers ist es, zu antizipieren, wo mögliche Problempunkte beim Gebrauch oder Kauf des Produktes entstehen könnten und wie hier eine problemlösende Interaktion mit dem Nutzer helfen kann. Wir müssen uns im Marketing in die Interessenlage des Kunden versetzen, nicht in die des Unternehmens. Wir müssen uns im Marketing als Kollaboratoren des Käufers und Nutzers sehen, nicht als Verkäufer. Wir müssen uns im Marketing darauf einlassen, dass der Kunde Co-Creator und nicht nur Ver- oder Gebraucher ist.

Wir sollten Marketing bei jedem Kundenkontakt als Moment der Wahrheit begreifen, als Haltung, dass die Marke das Fühlen, Denken und Handeln unserer Kunden, Nutzer, Empfehler, Fans und Verbraucher entscheidend bestimmt.

Service Design ist Strategie.

Service Design ist Marketing. Service Design ist Business Model. Service Design ist Unternehmensführung. Wenn Service Design Strategie ist, dann müssen Unternehmen Silodenken und fragmentierte Infrastrukturen aufgeben. Der Service, den Unternehmen bieten, entspringt aus der zugrundeliegenden Haltung zum Leistungsversprechen, das Leben des Kunden in einem Bedürfnispunkt besser zu machen. Der Service hört nicht im Call Center auf. Service Design ist immer. Hierzu gilt es, an allen Kontaktpunkten mit gleicher Haltung aufzutreten und somit die Beziehung zum Kunden als Gesamterlebnis zu gestalten. Vollkommen friktionslos, immerwährend. Kunden verzeihen einer Marke nicht Intransparenz, Irrelevanz oder das wiederholte Versagen bei der Interaktion. Service und Produkt sind eins, überall.

Diese drei C sind für mich die Leitplanken für eine perfekte Infrastruktur eines konsistenten Markenerlebnisses innerhalb der Customer Journey:
Content. Convenience. Community.

„Service-Design-Flow“: Customer-Journey-Ansatz und Marken-Strategie verschmelzen.

1. Content als Teil des Service Design.

Markenbotschaften dienen nicht nur der (werblichen) Bedarfsweckung. Sie informieren vielmehr transparent und tiefgreifend über Motive und Werte einer Marke, über Nachhaltigkeit, Intention des Nutzenversprechens — also über die Haltung, den Purpose, des Unternehmens und der Marke. Im Dialog mit dem Kunden oder Interessenten erhalte ich wichtige Informationen, die mir helfen, mein Produktanbgebot zu schärfen oder zu verbessern.

2. Convenience als Teil des Service Design.

Nach alter Lesart der Kern von Service Design: die Funktionalitäten, die User Experience mit dem Produkt oder mit ergänzenden Diensten. Hierzu gehört vor allem, die intuitive Verständlichkeit der Funktionalitäten von Produkten, Apps, Websites etc. als erstes in der Konzeption zu fokussieren. Form follows function! Ein Schritt weiter geht Personalisierung von Funktionalitäten oder Customization von Produkten. Und schließlich heißt Convenience aber auch, interne und externe Prozesse zu optimieren. Wie reibungslos ist der Kaufprozess, wie gut ist der Wiederkauf, wie toll die Erweiterung des Produktes und wie kulant und verständnisvoll ein Reklamationsprozess. Das heißt auch, interne Unternehmensprozesse nach innen effizienter und kulturrelevant für die Mitarbeiter zu gestalten. In der Convenience zeigt sich der Human Touch — nach außen und nach innen.

3. Community als Teil des Service Design.

Die Interaktion der Marke mit den Menschen und die Interaktion der Menschen untereinander über die Marke ist die signifikante Messgröße, wie ernst, wie ehrlich und transparent ein Unternehmen die Bedürfnisbefriedigung des Kunden nimmt. Interaktion mit der Community heißt, der persönliche und aufrichtige Dialog zwischen Kunden und Marke, sowohl one-to-one als auch one-to-many. Die aktive und reaktive Beratung und Beziehungspflege erzeugt Loyalität. Die Teilhabe an der Marke über Co-Creation oder über aktive Meinungsabfrage (z. B. Testing) macht Kunden zu Verbündeten. Die Beratung untereinander und die Weiterempfehlung innerhalb der Community erhöht die Entscheidungsgeschwindgikeit für eine Marke oder Produkt. Wenn sich Kunden auch noch als Kollektiv wahrnehmen können, dann wird die Haltung, die der Marke innewohnt, integrativ spürbar — wie z. B. beim nachhaltigen Ridesharing-Konzept Moia, wo du nicht allein die Fahrt machst sondern mit anderen teilst und damit auch deine Kosten. Der Beauty-Shop Sephora gibt seinen Kunden im The Beauty Board ein Forum, deren Kosmetik-Looks zu präsentieren und somit Inspiration für zukünftige Kunden — mit den entsprechenden Shop-Links zu den verwendeten Kosmetikartikeln.

Einen Involvierungsgrad höher und damit richtiges Mitgestalten probiert der Möbelhändler Made.com mit seinem Talent Lab. Im Lab können Kunden und Nachwuchsdesigner zum Produktgestalter werden.

Service Innovation durch Digitalisierung.

Durch die digitale Transformation bekommt die Differenzierung über innovative Services enormen Auftrieb. Digitalisierung bedeutet enorme Chancen, das Servicelevel eines Unternehmens und eines Produktes immens zu erhöhen. Die Verbindung von analogen und digitalen Touchpoints entwickelt sich zur herausfordernden, aber umsatz- und beziehungsfördernden, Maßnahme, den Dienst am Kunden zu intensivieren.

Service Design führt so zu einer umfassenden Transformation ganzer Branchen. Das geht sogar so weit, dass gewisse negative Facetten der Marke und dessen Haltung durch innovative Services überstrahlt werden.

Amazon beispielsweise landet in Kundenstatistiken zum Servicelevel auf den vordersten Plätzen. Das innovative Geschäftsmodell mit einem Service-Mix aus personalisiertem und äußerst convenientem e-Commerce, Content-Plattform für Produkt-Awareness und Media-Kanal überstrahlt auch kritische Komponenten des Geschäftsmodells. Die selben Menschen, die Amazon aufgrund des Servicelevels feiern, kritisieren häufig die Bevormundung der Markenartikler durch den E-Tailer, die Firmenkultur und den Umgang mit Daten. Trotzdem ist Amazon eines der erfolgreichsten Unternehmen und eine der wertvollsten Marken der Welt.

Die insbesondere aus dem Haltungsmarketing getriebene Shared Economy zeigt deutlich, dass Service das eigentliche Produkt wird, weil hier Marken Infrastrukturen zur Plattform machen. Autohersteller werden zukünftig weniger Autos verkaufen, dafür aber über die Allokations- und Communitymechanismen ihrer Plattformen instant und zeitweise persönliche Mobilität anbieten. Das ist nur über das mobile Internet möglich. Hier wird das mobile Devise zum Point of Sale.

Tante Emma: CRM und Deep Data.

Perfekten Service an jedem Kontaktpunkt anbieten zu können, heißt notwendige Daten über den Nutzer zu sammeln, um Bedürfnisse aktiv zu ermitteln, Services zu personalisieren und auch aktiv Informationen an Kunden zu distribuieren. Social & Digital CRM ermöglichen so anwendungsorientierte und automatisierte Datennutzung, um Kunden-Beziehungen so aktiv und tief, wie gewünscht und nötig, zu managen. So werden Massenmärkte wieder zu Tante-Emma-Läden.

Von Reinhard Kirchner — Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2590577

Transparenz, persönlicher Dialog, Mitgestalten und Vernetzung ermöglichen tiefe Kundenbindung und Kundenzentrierung. Dem behutsamen Datenmanagement über die verschiedenen — auch externen — Touchpoints kommt jetzt eine massive Bedeutung zu. Transparente Plattform-Systeme, in denen der User selbst bestimmt, welche Services er nutzen will und welche Daten er dafür preisgibt, müssen entwickelt werden.

Am einfachsten ist dieser Datenaustausch innerhalb eines geschlossenen markeninternen Systems. Datenschutzrechtlich und aufgrund der Qualität von First-Party-Daten wohl die beste Lösung. Für die Werbewirtschaft und das Thema „Retargeting” die denkbar schlechteste. Wenn wir uns in Post-Cookie-Zeiten nicht von wenigen Publishern oder von Facebook und Google abhängig machen wollen, brauchen wir demokratische unabhängig kontrollierte Log-In-Plattformen, um Datenmanagement transparenter und sicherer zu machen. Net-ID ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, weil als Stiftung bestimmten allgemeinnützigen europäischen Grundlagen verpflichtet. Allerdings ist diese von (noch) wenigen Marken und Publishern betrieben und bleibt so noch den Beweis einer verbraucherzentrierten unabhängigen Plattform-Ökonomie schuldig. Aber dieses ist ein neues, spannendens Thema der Netzpolitik …

Schließlich wird transparentes CRM und der schützende Umgang mit Daten per se zum verpflichtenden, immer wichtiger werdenden Service, der nachhaltige Marken mit Human Touch und Haltung von kurzfristigen, sales-getriebenen Unternehmen differenziert.

Tldr: Eine ganzheitliche Sichtweise von Service.

So, wie ein Unternehmen Dienstleistung und Kundendienst denkt und gestaltet, so tickt die Marke. Der Service, auch ergänzend zum eigentlichen Produkt, unterstreicht die eigentlichen Mission und den Zweck der Marke.

Am Service ist die eigentliche Haltung des Unternehmens zu erkennen. Stellt sich das Unternehmen wirklich in den Dienst des Kunden? Möchte die Marke das Gemeinwohl durch ihr Produkt und die Dienstleistung verbessern? Möchte die Marke dein Leben in Form eines mehrwertorientierten Nutzenversprechens wirklich besser machen? Wenn offensichtliches Gewinnstreben im Sinne eines kurzfristigen finanziellen Abschöpfens der Kunden überwiegt, hat die Marke langfristig null Überlebenschance.

Marken verbessern heißt Service Design verbessern.

Nicht das eigentliche Produkt, sondern die Service-Welt drum herum differenziert. Die ganzheitliche Sichtweise auf Service Design schafft eine Erlebnis-Infrastruktur einer Marke, die alle Interaktionen mit dem Kunden immerwährend mit gleicher Haltung friktionslos verbindet. Service ist das Produkt.

Originally published at http://leadagency.de on February 3, 2020.

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Kai Bösterling

Communication Expert. Brand Enthusiast. Creative Strategist. Passion for brands & creative ideas. Bridge builder between digital & analog.